Jahresbericht 2009

TNr. 28: Defizite beim Schutz des Waldes

Baum mit Verbissschaden

Die Verbissbelastung durch Wild in den Wäldern ist nach wie vor untragbar hoch. Die Landratsämter setzen die Abschussempfeh­lungen der unteren Forstbehörden nicht konsequent um. Das ver­letzt den gesetzlichen Grundsatz "Wald vor Wild".Die Situation erfordert sofortiges Handeln: Das Forstministerium muss einheitlich und effektiv steuern. Die Staatsregierung sollte zudem eine Gesetzesänderung einleiten, wonach die Zuständig­keiten einheitlich bei den unteren Forstbehörden liegen. Dann kann die Verwaltung ihrer Verantwortung für den Schutz der Wälder deut­lich besser gerecht werden.

Der ORH und zwei Staatliche Rechnungsprüfungsämter haben die Tätigkeit der Forst- und Jagdbehörden insbesondere unter dem Gesichtspunkt "Wald vor Wild" geprüft.

Der Wald hat besondere Bedeutung für den Schutz von Klima, Wasser, Luft und Boden, Tieren und Pflanzen, für die Landschaft und den Naturhaushalt. Er ist nach­haltig zu bewirtschaften und vor Schäden zu bewahren. Im Spannungsverhältnis zwischen hohen Wildbeständen und der Erhaltung und Verjüngung des Waldes gilt der Grundsatz "Wald vor Wild" (Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 BayWaldG i. V. m. Art. 1 BayJG).

28.1             Zuständigkeiten/Aufgaben im Bereich der Jagd

Beim Schutz des Waldes vor Wildverbiss haben die Forst- und Jagdbehörden fol­gende Aufgaben:

28.1.1          Aufgaben der Forstbehörden

Die Ämter für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (ÄELF) sind die unteren Forst­behörden mit über 1.000 Mitarbeitern. Die Aufsicht über die ÄELF obliegt dem Forst­ministerium als oberster Forstbehörde.

Die ÄELF fertigen u. a. die "Gutachten zur Situation der Waldverjüngung" (sog. Ver­bissgutachten) im Staats-, Privat- und Kommunalwald.[69] In diesen Gutachten bewer­ten sie die Verbissbelastung und geben allgemeine Empfehlungen zur Höhe der Abschüsse für Reh-, Rot- und Gamswild ab ("senken", "beibehalten", "erhöhen" oder "deutlich erhöhen").

28.1.2          Aufgaben der Jagdbehörden

Die unteren Jagdbehörden sind die Landratsämter und die kreisfreien Städte. Die Re­gierungen sind höhere Jagdbehörden, die oberste Jagdbehörde ist das Forstministe­rium.

Nach dem BayJG, der entsprechenden Ausführungsverordnung (AVBayJG) und den Vollzugshinweisen des Forstministeriums haben die unteren Jagdbehörden folgende Aufgaben:[70]

  • Sie legen in einem komplexen Verfahren die Abschusspläne fest. Hierbei sind insbesondere die Verbissgutachten und Abschussempfehlungen der ÄELF zu be­rücksichtigen. Die ÄELF sind gemäß Art. 32, 49 BayJG nur zu beteiligen. Ein Mit­entscheidungsrecht besteht nicht.[71]
  • Sie müssen den höheren Jagdbehörden (Regierungen) über die Umsetzung der Vollzugshinweise des Forstministeriums berichten.
  • Sie müssen überwachen, ob die Abschusspläne erfüllt werden (z. B. durch Zwi­schenmeldungen).[72]
  • Sie müssen die zur Umsetzung des Abschussplans erforderlichen Anordnungen gegenüber dem verantwortlichen Jäger treffen. Dies können z. B. sein:
    • Festlegung von Abschusskontingenten, die innerhalb bestimmter Fristen erfüllt werden müssen,
    • Anordnung des körperlichen Nachweises des erlegten Wildes und
    • Zwangsgeld.

28.2             Schäden durch Wild

Der gesetzliche Grundsatz "Wald vor Wild" erfordert den Schutz junger Bäume vor dem Verbiss. Diese werden bei zu hohen Wildbeständen im Wachstum beeinträch­tigt.

Der Verbiss durch Reh-, Rot- und Gamswild in den bayerischen Wäldern ist zu hoch. Er führt zu einer einseitigen Waldstruktur (Nadelholzmonokulturen) und dazu, dass der Wald seine vielfältigen Funktionen nicht erfüllen kann. Der Klimawandel erfordert klimatolerante Baumarten. Diese werden aber bevorzugt verbissen.

28.2.1          Verbissgutachten

Im Frühjahr 2006 wurde in Bayern die Verbissbelastung an jungen Waldbäumen er­hoben (3-Jahres-Turnus).

Die bayerischen Jagdreviere sind in 751 Hegegemeinschaften zusammengefasst. Bei 2/3 dieser Gemeinschaften zeigten die Verbissgutachten 2006 eine für den Wald nicht tragbare Verbissbelastung auf. Deswegen empfahlen die Forstbehörden, dort den Abschuss zu "erhöhen" oder "deutlich zu erhöhen".

Bei den vorangegangenen Verbissgutachten 2003 hatten "nur" 50% der Hegege­meinschaften eine nicht tragbare Verbissbelastung.

Die Aussagekraft der Verbissgutachten war insbesondere vom Landesjagdverband infrage gestellt worden. Das Forstministerium gab daher eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag. Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, dass das den Verbissgutachten zugrunde liegende Verfahren zur Erfassung und Beurteilung des Zustands der Waldverjüngung objektiv ist.

28.2.2          Erkenntnisse des ORH zur Verbisssituation

Die Ergebnisse der Verbissgutachten werden auch durch Erkenntnisse des ORH be­kräftigt:

Die Bejagung muss sicherstellen, dass sich die standortgemäßen Baumarten ohne Schutzmaßnahmen wie Zäune natürlich verjüngen können.[73] Im Rahmen laufender Prüfungen im Kommunal- und Privatwald hat der ORH festgestellt, dass Pflanzun­gen und Naturverjüngungen von Laubbäumen und Tannen durch Einzäunungen vor Wildverbiss geschützt werden müssen.

Die Problematik des Wildverbisses hat sich bei einer Prüfung des ORH 2008 im Schutzwald des Gebirges gezeigt: Hänge in den bayerischen Alpen, von denen akute Gefahren für Ortschaften ausgehen, werden aufgeforstet. Der Staat gibt hierfür und für Lawinenverbauungen jährlich rd. 3 Mio. € aus. Aufgrund der klimatischen Be­dingungen im Gebirge wachsen die jungen Bäume langsamer. Damit sind sie dem Verbiss durch Wild erheblich länger ausgesetzt. Durch den festgestellten Wildverbiss gehen diese Investitionen teilweise ins Leere.

28.2.3          Wildunfälle

Handlungsbedarf signalisieren auch die Wildunfälle: Nach einer Wildunfallstatistik des Innenministeriums gab es zwischen 2002 und 2007 in Bayern insgesamt 286.442 Wildunfälle. In 72% war vor allem Rehwild beteiligt. Dabei wurden 3.550 Personen - zum Teil schwer - verletzt. 16 Personen wurden getötet. Der Sachschaden betrug rd. 49 Mio. €.

28.3             Feststellungen des ORH zum Vollzug des Jagdrechts

Der ORH hat festgestellt, dass die unteren und höheren Jagdbehörden beim Vollzug des Jagdrechts mehrheitlich kaum aktiv werden. Folgende Beispiele verdeutlichen dies:

  • Nur 6 der 21 geprüften Landratsämter haben die Anweisung des Forstministeriums befolgt und den Regierungen über die Festlegung, Kontrolle und Durchsetzung des Abschussplans berichtet. Die übrigen 15 konnten auf Nachfrage keine Be­richte vorlegen.
  • Die Landratsämter kontrollieren nur in Einzelfällen, inwieweit die Abschusspläne erfüllt werden. Nur 4 der 21 geprüften Landratsämter haben Zwischenmeldungen zur Kontrolle der Abschüsse vom Jagdrevierinhaber verlangt. Alle übrigen Land­ratsämter haben sich auf Abschusslisten verlassen, die ihnen von den Revierin­habern am Ende des Jagdjahres vorgelegt wurden. Eine Kontrolle, ob die in den Listen angegebenen Tiere tatsächlich erlegt wurden (z. B. durch körperlichen Nachweis) erfolgte nicht. Nur ein Landratsamt hat verlangt, dass jeder Abschuss binnen drei Tagen schriftlich mitgeteilt wird.
  • In 341 der 751 Hegegemeinschaften empfahlen die Verbissgutachten eine Erhö­hung des Abschusses. Trotzdem haben die Landratsämter/kreisfreien Städte in 53 Fällen (16%) die Abschüsse nicht erhöht.
  • 5 der 7 Regierungen gaben den Landratsämtern/kreisfreien Städten keine Rah­menvorgaben dazu, was unter "Erhöhung" oder "deutlicher Erhöhung" des Ab­schusses zu verstehen ist. In Niederbayern wurde "deutlich erhöhen" mit mindes­tens 20%, in Mittelfranken mit 30% definiert. In allen anderen 5 Regierungsbe­zirken legen diese die Landratsämter/kreisfreien Städte selbst fest. Dies hat zur Folge, dass die Umsetzung bayernweit höchst unterschiedlich ist.
  • Beim Schutzwald zeigte sich, dass die in den Plänen festgelegten Abschüsse nach den Abschusslisten nicht erreicht wurden. Die Landratsämter haben dies hingenommen und keine Konsequenzen gezogen.

28.4             Wertung des ORH

Der ORH hat mehrfach, zuletzt im Jahresbericht 1999[74], auf die nicht tragbare Ver­bissbelastung hingewiesen. Schon damals hat er angeregt, über andere gesetzliche Lösungen nachzudenken, wenn die Verwaltung mit den Abschussplänen keine trag­bare Verbisssituation sicherstellen kann.

Planung, Umsetzung und Kontrolle der Abschüsse von Reh-, Rot- und Gamswild weisen nach wie vor erhebliche Defizite auf: Die Landratsämter/kreisfreien Städte wenden die gesetzlichen Regelungen nur unzureichend an. Die Regierungen kom­men mehrheitlich ihrer Aufsichtsfunktion nicht nach. Das Forstministerium hat zwar Vollzugshinweise erlassen, verfolgt deren Einhaltung aber nicht mit der notwendigen Konsequenz. Eine wesentliche Ursache für die seit Jahren unbefriedigende Situation liegt auch in der Aufteilung der Zuständigkeiten: Die Forstverwaltung bemängelt re­gelmäßig den hohen Verbiss, die Jagdverwaltung hilft dem nicht ab. Anschließend verweist die Forstverwaltung erneut auf die nicht tragbare Verbissbelastung. Das wenig effektive Zuständigkeitsgeflecht zwischen den unteren Jagd- und Forstbehör­den ist kein Zukunftsmodell und sollte aufgegeben werden. Der Aufgabenbereich Jagd sollte von den Landratsämtern und kreisfreien Städten auf die unteren Forst­behörden (ÄELF) übertragen werden. Diese üben schon jetzt hoheitliche Aufgaben im Wald aus. Eine Personalmehrung wäre damit nicht verbunden. Die Forstbeamten sind vor Ort und könnten auf die Verbisssituation unmittelbar reagieren. Bis zur Forst­reform im Jahr 2005 haben die unteren Forstbehörden diese Aufgaben für den Staats­wald ohnehin wahrgenommen.

28.5             Haltung der Verwaltung

Das Forstministerium trägt vor, für die Verlagerung der Zuständigkeiten auf die ÄELF spreche vor allem die Fachkompetenz und zwar nicht nur in forstlicher oder jagd­licher, sondern auch in landwirtschaftlicher Hinsicht (z. B. Schäden an landwirtschaft­lichen Kulturen). Außerdem könne dadurch die Glaubwürdigkeit der Staatsverwaltung (z. B. im Hinblick auf den geförderten Waldumbau) insgesamt gestärkt werden. Es gäbe erhebliche synergetische Effekte, wenn die Abschussplanung vollständig von den Forstbehörden übernommen würde.

Allerdings sei für eine Verlagerung der Zuständigkeit eine Gesetzesänderung erfor­derlich. Aus Sicht des Forstministeriums solle aber zurzeit keine Änderung des BayJG initiiert werden, auch wenn einzuräumen sei, dass nach den vorliegenden Erkenntnissen Handlungsbedarf bestehe. Es seien ansonsten Akzeptanzprobleme bei der Jägerschaft zu befürchten. Die Staatsregierung sehe angesichts der bewähr­ten jagdlichen Grundordnung keinen akuten Handlungsbedarf für ein Gesetzgebungs­verfahren. Die unteren Jagdbehörden sollen vielmehr angehalten werden, das Betei­ligungsrecht der ÄELF verstärkt sicherzustellen.

28.6             Auffassung des ORH

Die Defizite beim Schutz des Waldes vor Wildverbiss müssen umgehend beseitigt werden. Die Mängel liegen in erster Linie am mangelhaften Vollzug des Jagdrechts durch die Landratsämter / kreisfreien Städte. Das Ministerium und die Regierungen müssen ihre Aufgaben wahrnehmen und steuernd eingreifen.

Der ORH nimmt zur Kenntnis, dass das Forstministerium die Analyse, Bewertung und Vorschläge des ORH grundsätzlich teilt. Diese Einsicht genügt aber nicht. Das Ministerium muss dafür sorgen, dass die fachlichen Erkenntnisse auch umgesetzt werden. Der mangelhafte Vollzug des Jagdrechts durch die Landratsämter / kreisfreien Städte muss beendet werden.

Der Vollzug der Vorschriften zum Schutz des Waldes würde wesentlich erleichtert werden, wenn die Zuständigkeiten auf die Forstbehörden (ÄELF) übertragen würden. Der Vorschlag des Ministeriums, stattdessen die Beteiligungsrechte der ÄELF ver­stärkt sicherzustellen, reicht keinesfalls aus. Nach Auffassung des ORH dürfen Akzeptanzprobleme bei der Jägerschaft kein Hinderungsgrund sein. Es gilt der ge­setzliche Vorrang „Wald vor Wild“.


[69] Art. 28 Abs. 1 Nr. 10 BayWaldG, Art. 32 Abs. 1 Satz 3 BayJG.
[70] AVBayJG, GVBl 1983, 51; LMS vom 13. Dezember 2006 Gz. R 4 - 7942-1041.
[71] Leonhardt, Kommentar zum Jagdrecht, Carl Link Verlag, Stand 1. Januar 2009, Anm. 3 (3) zu Art. 49 BayJG.
[72] § 16 AVBayJG.
[73] Art. 1 Abs. 2 Satz 3 BayJG.
[74] ORH-Bericht 1999 TNr. 41.